Emily ist zu Anfang der Story 33 Jahre alt und alleinerziehende Mutter von Jani. Mit seinem Vater Mark ist sie gut befreundet. Sie arbeitet als Grafikdesignerin in einer kleinen Werbeagentur. In Beziehungsdingen ernüchtert, ist sie mit ihrem Singledasein mehr als zufrieden und kann nicht über Langeweile klagen. Dafür sorgen auch Windhund Spooky (Whippet) sowie die beiden Kater Muffin (Heilige Birma) und Merlin (Abessinier). Sie liebt es, am Computer zu arbeiten oder MMOs zu zocken, ist ein Movie-Junkie, liest viel und schreibt gerne Geschichten.
Eines ihrer Werke, eine Kurzgeschichte namens Modern Times, spielt eine wichtige Rolle in den kommenden Ereignissen, ebenso wie ein ganz spezielles Schmuckstück, das Amulett.
Hier kannst du die Geschichte lesen und das Amulett anschauen:
Modern Times
von Emiliane Jaden
„Und tschüss“, verabschiedete er die Datei und beförderte Deckblatt, Bewerbung und Lebenslauf mit einem lässigen Mausklick ins Innere seines Computers. Einige Sekunden hielt er den Atem an, dann informierte ihn eine höfliche Meldung auf dem Bildschirm, dass der Druckauftrag abgearbeitet wurde. Endlich …
Man schrieb das Jahr 1995, den 30. April, und während sich die Stadt in feuchtfröhlichem Herbeifeiern des 1. Mai erging, verbrachte er die Nacht wieder einmal mit einer Bewerbung, die seine inzwischen zweijährige joblose Pechsträhne beenden und die Rückkehr in ein normales Leben ermöglichen sollte. Dieses Mal hatte sich das Formulieren des Schreibens als das kleinere Übel entpuppt, denn seit er den Drucker angeschlossen hatte – ein geliehenes Exemplar, Baujahr Neunzehnhundertvorsintflutlich – meuterten die sonst so zuverlässigen Funktionen seines Computers.
Es war fast Mitternacht. Misstrauisch beäugte er den Tintenstrahler, der ihm eisern verbohrtes Schweigen entgegensetzte, wenngleich auch zartgrünes Flackerlicht auf langersehnte Datenübertragung hoffen ließ. Eine Zigarette sollte ihm die Wartezeit verkürzen, doch im Chaos von Druckeranleitungen, Handbüchern und technischen Bedienertipps auf seinem Schreibtisch fand er nur noch eine leere Schachtel. Er seufzte. An der Straße um die Ecke gab es einen Zigarettenautomat.
Bevor er seine Wohnung verließ, schaltete er den Anrufbeantworter seines Telefons ein und vergewisserte sich, dass das Faxgerät auf Empfang war. Allzeit bereit für Jobangebote von geistig umnachteten innovativen Personalchefs, die mitten in der Nacht auf die Idee kamen, ihn einzustellen. Alles war möglich.
Der besagte Zigarettenautomat schluckte hungrig das ihm zugeführte Kleingeld, verweigerte jedoch jeglichen Zugriff auf seine nikotinhaltigen Innereien. Er fluchte und suchte seine nahegelegene ehemalige Stammkneipe auf, das Bistro „Mücke“, in dem in wilden Grüntönen beschminktes Volk fröhlich singend und trinkend den Tanz in den Mai beging. In einem Anflug von Sentimentalität ließ er sich von der Stimmung anstecken und leistete sich neben zwei Schachteln Luckys eine Flasche Maibowle. Dann sah er zu, dass er hinauskam, bevor ihn jemand ansprach. Zugeben, dass er ohne Arbeit war, kostete ihn stets ein Stück verbliebenen Stolzes und sog ihn in die verhasste Welt voll grauer Ratten, die an seinem Ego nagten.
Runde zwanzig Minuten später stand er wieder vor seiner Haustür. So sicher er wusste, dass er sie hinter sich geschlossen hatte, als er ging, so maßlos entsetzt starrte er auf den Boden. Fünf sorgfältig grün-lackierte Fingernägel an einer schmalen Hand, die aus seiner Wohnung in den Hausflur ragte, ließen sein Blut in den Adern gefrieren. Er schob die Tür auf und blickte in das Zimmer. Alles war wie immer. Bis auf drei Kleinigkeiten.
Der Empfangsknopf des Faxgerätes leuchtete rot, ohne dass irgendwelche Übertragungen ersichtlich gewesen wären, dafür hatte sich im Ausgabeschacht des Tintenstrahldruckers umso mehr Papier angesammelt, und auf den Fliesen lag ein nackter weiblicher Körper.
Der Gestalt war nicht anzusehen, ob sie noch lebte oder nicht. Ihr Rücken war ihm zugewandt, bedeckt von einer Flut schwarzen Haares. War sie tot? Sie war tot. Er versuchte, nicht in Panik zu verfallen, gab sich einen Ruck, sank an ihrer Seite auf die Knie und drehte sie ängstlich um. Sie stöhnte leise und ihre Augenlider zitterten. Sie war nicht tot.
Schnell sprang er wieder auf, hob die Hand mit den grünen Fingernägeln und zugehörigem Arm eilig aus dem Weg und schloss die Tür, bevor seine Nachbarn auf Gedanken kamen, die ihn vielleicht seinen Mietvertrag kosten würden. Erneut kniete er an ihrer Seite nieder.
Schwarzes Haar klebte schweißnass auf ihrer Stirn, hellhäutig, hohe Wangenknochen; viele winzige Sommersprossen, die ihm seltsam unpassend zum Rest ihres Gesichtes erschienen, tummelten sich auf ihrer Nase. Sein Blick wanderte weiter. Ihre Scham war ohne Haare, das rührte und erregte ihn zugleich. Als er wieder aufschaute, blickte sie ihm direkt in die Augen. Er erstarrte und vergaß völlig, rot zu werden. Solch ein unglaublich klares Grau hatte er noch nie gesehen.
„Ist was?“ fauchte sie und wand sich aus seinen Armen.
„Deine Augen,“ stammelte er, „sie sind grau“.
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Tatsächlich? Nun, das kommt schon mal vor.“
Sie stand auf und wankte.
Schnell griff er nach ihr und schob sie auf das Sofa. „Bist du okay?“
Mit geschlossenen Augen sank sie zurück, um sogleich wieder hochzuschnellen. „Shit, nein. Mir ist übel. Wo -?“
Er hatte noch Zeit, ihr den Weg zu deuten, da sprintete sie schon mit einer Hand vor dem Mund ins Bad.
Später lugte sie durch den Türrahmen, ein leicht verschämtes Lächeln auf den Lippen. „Sorry! Kann ich vielleicht duschen? Und hättest du was zum Anziehen, ´n T-Shirt oder so?“
„Klar,“ nickte er schnell und grinste blöde, „kein Problem.“
Er ging hinein, als sie bereits unter der Dusche stand und hängte die Sachen über den Stuhl. Unsicher verharrte er kurz und drehte sich dann zum Gehen. Da sprach sie ihn an.
„Danke!“ lächelte sie. Ihr nasses Gesicht ragte vorwitzig zwischen den grellbunten Fischen des Plastikvorhanges hervor. „Du bist sehr nett. Setz dich!“
„Bitte?“
Aber sie war schon wieder hinter dem Duschvorhang verschwunden, begann zu reden, und so setzte er sich. Sie sei unterwegs zu einem Fest, erzählte sie, einer Art Familienfeier mit Bekannten und Verwandten, zu der sie einmal im Jahr zusammenkamen. Weil sie sehr spät dran war, hatte sie eine Abkürzung ausprobieren wollen, sich dabei verirrt und war in seiner Wohnung gelandet.
„Aha,“ bemerkte er. „Eine Abkürzung. Durch meine Wohnung. Das geht natürlich viel schneller, alles klar.“
Aber das schien sie nicht zu hören, denn sie duschte zuende, schlang ein Handtuch um ihren Kopf, trat tropfnass heraus und trocknete sich unbedarft vor seinen Augen das Wasser von ihrem Körper. Er vergaß zu fragen, wie sie es geschafft hatte, in seine verschlossene Wohnung zu gelangen, und das nackt, und warum ihr so übel gewesen war. Es fiel ihm schwer, nicht auf den glatten Hügel zwischen ihren Beinen zu schauen und auch die Tropfen, die von ihren kleinen festen Brüsten perlten, zogen seine Blicke magisch an.
Sie bemerkte es und hielt in ihrer Bewegung inne. „Du findest mich schön!“ stellte sie fest und trat vor ihn. Er musste aufschauen, um ihr zu antworten und schluckte. Ihr Gesicht schien nur aus Augen zu bestehen; die Worte fanden keinen Weg durch seine Kehle, und so nickte er nur.
Sie lächelte ihn an. „Du gefällst mir auch … und dein T-Shirt – darf ich es haben?“ Er ließ es sich von ihr über den Kopf ziehen und ihre Hand strich leicht die Mittellinie seiner Brust entlang nach unten. Ihre grauen Augen hielten seine tiefbraunen fest im Bann. „Deine Jeans könnte mir auch passen …“. Er antwortete nicht, öffnete stattdessen seinen Gürtel und zog die Hose aus.
Leise auflachend warf sie mit einer anmutigen Drehung ihres Kopfes das Handtuch hinab und schüttelte das schwarze nasse Haar in den Nacken. Sie senkte ihren Mund an sein Ohr. „Weißt du was? Dieses Jahr müssen sie das Fest ohne mich feiern. Hast Du etwas dagegen, wenn ich bleibe?“ Sprach’s, verschloss seine Lippen mit den ihren und führte seine Hände an ihren Körper. Der kurze Gedanke, Widerspruch einzulegen, wurde vom anschmiegenden Erschauern ihres Körpers im Keim erstickt; er zog sie an sich und herab auf seinen Schoß.
Wie selbstverständlich nahm sie ihn auf, tief, und dann begann sie sich zu bewegen, in einer Art, die sein Blut in heißen Wogen durch seinen Körper taumeln ließ, flüsterte Worte in sein Ohr, seltsame, unbekannte Laute, die ihn forttrugen aus der Realität.
Plötzlich nahm sie seine Hand, zog ihn unter die Dusche, die sie zu einem warmen Wasserfall weit aufdrehte, kniete sich vor ihn und trieb ihn mit ihrem Mund und ihren Händen an den Rand des Wahnsinns. Als er soweit war, schloss sie die Augen und hob ihr Gesicht seiner Hitze entgegen. Dieser Anblick gab ihm den Rest. Er verkrallte sich in den Duschvorhang, riss ihn aus seinen Halterungen und rutschte in der Wanne aus. Beim Aufschlag verlor er sofort das Bewusstsein. Das Duschwasser färbte sich rot vom heftig sprudelnden Blut aus dem klaffenden Riss in seiner Stirn.
Das Mädchen schlug erschrocken die Hand vor den Mund.
„Hoppla“, sagte sie und kicherte. Dann drehte sie die Dusche ab, murmelte seltsame, unverständliche Laute und schnippte dazu mit den Fingern.
Er erwachte mit leichten Kopfschmerzen in seinem Bett und versuchte, sich zu erinnern. Der Traum… Dann sah er am Fußende das Mädchen sitzen.
„Was ist passiert?“ fragte er.
„Du hast dir den Kopf gestoßen“, erwiderte sie lächelnd.
War er nicht gestürzt? Er berührte seine Stirn. Da war nichts.
Ihm fiel etwas auf.
„Dein Haar“, bemerkte er, „es ist blond.“
„Das kommt vor“, flüsterte sie, hob die Decke und schlüpfte darunter. Er war zurück im Traum. Und der vertrieb seine Kopfschmerzen. Als ihr Gesicht auf der Höhe des seinen war, gebot er ihr atemlos Einhalt, flüsterte: „wer bist du nur?“ und hielt überrascht inne. Das blaueste Blau, das er je gesehen hatte.
„Deine Augen“, flüsterte er, „sie sind blau.“
„Tatsächlich?“ keuchte sie, „das kommt vor. Hör nicht auf, dich zu bewegen!“
Viel später, als ihr Atem sich beruhigt hatte und ihre Körper sich entspannten, fanden sich ihre Hände und hielten einander fest. So schliefen sie ein.
Bei Morgendämmerung läutete ihn das Telefon aus dem Schlaf. Er nahm ab, lauschte. Dann drehte er sich zu ihr. „Bist du Zirkonia?“
Sie nahm den Hörer.
„Mutter? –
– Ja, ich habe es ausprobiert –
– Nein, ich hatte mich bloß in der Nummer geirrt –
– Nein, es ist nicht gefährlich. Man muss sich nur daran gewöhnen. Du solltest es einmal ausprobieren, das ist jetzt IN!
– Nein, Mutter, den brauche ich auf gar keinen Fall. Ich nehme den gleichen Weg zurück –
– Ja, Mutter, ich weiß. Das war früher so. In deiner Zeit. Aber die Zeiten haben sich nun mal geändert –
– Natürlich werde ich vorsichtig sein. Ade, Mutter, bis später!“
Sie gab ihm den Hörer zurück. Er legte auf und sie schmiegten sich schläfrig aneinander.
„Zirkonia?“ murmelte er.
„Ja?“
„Ich heiße Sebastian.“
„Ich weiß.“
„Wirst du mir irgendwann alles erklären?“
„Aber ja.“ Sie lachte leise. „Schlaf jetzt.“
„Zirkonia?“
„Ja, Lieber?“
„Deine Augen. Jetzt sind sie grün.“
„Wirklich? Endlich!“
„Und dein Haar ist rot.“
„Dann ist es gut.“
Kurz bevor er zurück in den Schlaf sank, fiel ihm etwas ein. Jetzt passten die Sommersprossen zu ihrem Gesicht.
Als sie das nächste Mal aufwachte, küsste sie den Schlafenden zum Abschied und schlich auf Zehenspitzen in sein Arbeitszimmer. Es roch nach der Maibowle, die sie getrunken hatte, während er sich von dem Sturz und der Heilung seiner Stirnwunde erholte. Weit öffnete sie das Fenster, sog tief die Luft ein und bot ihr Gesicht mit versunkenem Ausdruck für einen Augenblick der warmen Maisonne dar. So glücklich hatte sie sich lange nicht gefühlt. Anschließend ging sie zum Tintenstrahler hinüber, nahm das Papier heraus und las aufmerksam seine Bewerbung. Danach murmelte sie seltsame, unverständliche Laute und schnippte dazu mit den Fingern.
In seinem Bücherregal fand sie ein Lexikon, blätterte darin, schrieb an einer bestimmten Stelle etwas hinein, schnitt sich eine Locke aus dem Haar und klebte sie mit Tesafilm in das Buch. Sie ließ es offen auf dem Schreibtisch liegen.
Jetzt trat sie an das Faxgerät, tippte – diesmal sorgsam – eine Nummer ein, drückte den grünen Startknopf und schlüpfte nackt in den Einzugsschacht. Als die letzte Strähne ihres tizianroten Schopfes verschwunden war, meldete das Display die erfolgreiche Speicherübertragung.
Neben der roten Locke im Lexikon las er später: „Walpurgisnacht, die Nacht vom 30. April zum 1. Mai, in der nach Volksglauben die Hexen auf ihren Besen auf den Blocksberg eilen, um dort ihr Fest zu feiern.“
Quer darüber stand in großen frechen handgeschriebenen Buchstaben: BESEN SIND OUT !
Die Bewerbung schickte er am darauffolgenden Tag ab. Er bekam den Job und betreute fortan in einem eigenen kleinen Büro einen ebensolchen kleinen Kundenkreis für ein mittelständisches EDV-Unternehmen. Damit war er völlig zufrieden, denn der Job war nach seinen Erlebnissen in der Walpurgisnacht nicht mehr wichtig für ihn.
Seine freie Zeit verbrachte er damit, durch die Straßen und Parks der Stadt zu laufen, immer in der Hoffnung, auf irgendeinen Hinweis zu stoßen, der ihm helfen würde, Zirkonia zu finden. In den Abendstunden saß er zuhause vor dem Computer, hinterließ Suchmeldungen auf Online-Pinboards oder surfte im Internet, um alles zu sammeln und zu lesen, was er über Hexerei finden konnte. Unter dem Pseudonym ‚Besen‘ legte er sich einen dieser modernen Weblogs zu und nannte ihn ‚Blogsberg‘.
Neuerdings liefen ihm häufig schwarze Katzen nach. Und ein Rabe hatte sich auf seinem Fensterbrett von ihm füttern lassen.
***
Das Blatt mit der Sendebestätigung des Telefaxes, vollständiger Faxnummer des Empfängers sowie Datum und Zeit der Übertragung, war von einem Windstoß weit unter den großen Schrank hinter seinem Schreibtisch geweht worden.
Eines Tages würde er es finden.
ENDE.